Mittwoch, 30. November 2011

Monetäre Makroökonomie und Infinitesimalrechnung

Das vorherrschende Denkmuster, welches neoklassischen Ökonomen so vertraut und selbstverständlich ist, dass sie es nicht einmal als Denkmuster erkennen, ist die Annahme einer infinitesimalen ökonomischen Realität. Das bedeutet, dass alle ökonomischen Phänomene verstanden werden qua mathematische Funktionen, wobei je nach Modell einige Grössen als gegeben (exogen), andere als variabel (endogen) erscheinen. Dieses Denkmuster verbindet beinahe alle ökonomischen Denkschulen: Monetaristen und Keynesianer, Post-Keynesianer und Österreichische Nationalökonomen. Aussagen solcher Ökonomen weisen die folgende Logik auf:

  • Die nachgefragte Menge ist eine Funktion des Preises
  • Sparen ist eine Funktion des Zinssatzes
  • Inflation ist eine Funktion der Geldmenge
  • Nutzen ist eine Funktion des Einkommens / Vermögens
  • Konsum ist eine Funktion des Einkommens
  • Output ist eine Funktion von Arbeit und Kapital
  • ...
Hätte man vor 200 Jahren so theoretisiert, wäre man wohl für verrückt gehalten worden. Heute ist diese Denkart so dominant, dass sogar Kritiker der Neoklassik innerhalb dieses Denkmusters argumentieren. In diesem Artikel soll dieses Denkmuster kritisch hinterfragt werden, indem wir zurück zu den Anfängen gehen: Zu Léon Walras und Antoine Cournot, den zwei französischen Ökonomen/Mathematikern, welche den infinitesimalen Paradigmenwechsel in der Ökonomie mehr als alle anderen herbei führten. Schliesslich wird eine Alternative aufgezeigt.

Beginnen wir mit einer erhellenden Textpassage von Léon Walras, welcher das heutige Denken in der Ökonomie wie kein zweiter beeinflusst hat. Er war es, der die Infinitesimalrechnung und die Ökonomie in einem Totalmodell zusammenbrachte. Vorarbeit für Léon Walras' Werk leistete vor allem Antoine Augustine Cournot mit seiner "Traité Elémentaire de la Théorie des Fonctions et du Calculus Infinitésimal" (1851). Cournot wiederum ging zur Schule mit Antoine-Auguste Walras, Léon Walras' Vater. Vater Walras war von Cournots Idee überzeugt, aus der Ökonomie eine mathematische Disziplin zu machen, und gab diese Idee an seinen Sohn Léon weiter. Léon Walras glaubte, dass die Ökonomie eine physikalisch-mathematische Disziplin sei:

Walras
"If the pure theory of economics or the theory of exchange and value in exchange, that is, the theory of social wealth considered by itself, is a physico-mathematical science like mechanics or hydrodynamics, then economists should not be afraid to use the methods and language of mathematics." (Walras, 1954, S. 71)

Zitieren wir zusätzlich das dogmengeschichtlich bedeutende und persönliche Vorwort zur vierten Auflage der "Elements of Pure Economics":

"As for those economists who do not know any mathematics, who do not even know what is meant by mathematics and yet have taken the stand that mathematics cannot possibly serve to elucidate economic principles, let them go their way repeating that "human liberty will never allow itself to be cast into equations" or that "mathematics ignores frictions which are everything in social science" and other equally forceful and flowery phrases. They can never prevent the theory of the determination of prices under free competition from becoming a mathematical theory. Hence, they will always have to face the alternative either of steering clear of this discipline and consequently elaborating a theory of applied economics without recourse to a theory of pure economics or of tackling the problems of pure economics without the necessary equipment, thus producing not only very bad pure economics but also very bad mathematics. (...) It is already perfectly clear that economics, like astronomy and mechanics, is both an empirical and a rational science. (...) It took from a hundred to a hundred and fifty or two hundred years for the astronomy of Kepler to become the astronomy of Newton and Laplace, and for the mechanics of Galileo to become the mechanics of d'Alembert and Lagrange. On the other hand, less than a century has elapsed between the publications of Adam Smith's work and the contributions of Cournot, Gossen, Jevons and myself. We were, therefore, at our posts and performed our duty. (...) Mathematical economics will rank with the mathematical sciences of astronomy and mechanics; and on that day justice will be done to our work." (Léon Walras, 1954)

Wenn ökonomische Phänomene sich verhalten wie Grössen der Mechanik oder Fluiddynamik - so bemerkt Walras - dann ist die Ökonomie eine mathematische Wissenschaft. In diesem Beitrag soll argumentiert werden, dass die Ökonomie sich eben nicht den Methoden der Mechanik, sprich der Infinitesimalrechnung, bedienen kann. Wohl aber sollte sie sich aus anderen mathematischen Gebieten informieren, z.B. der Zahlentheorie oder der Logik. Die Wahl der Methode in der Ökonomie darf dabei nicht zufällig, ausgehend von Sympathien und Präferenzen, gewählt werden, wie Walras korrekt aufführte. Vielmehr bedarf die Wahl der Methode einer logischen Beweisführung.

Wenn Léon Walras schrieb, dass Mathematik die Sprache der wissenschaftlichen Ökonomie sei, dann meinte er damit - das wissen wir heute - tatsächlich bloss ein Teilgebiet der Mathematik: die Infinitesimalrechnung. Die Leibniz'sche und Newton'sche Idee der "unendlich kleinen" Bewegung ist die notwendige Grundlage für mathematische Funktionen, lineare und nicht-lineare. Die Idee der infinitesimalen Zahlen erregte in der Geschichte der Mathematik dabei schon vielfach die Gemüter. Der griechische Sophist Zenon von Elea hielt Bewegung per se für etwas Unmögliches, da ein sich bewegender Pfeil in jedem Augenblick ruhen müsse. Doch wenn die Zeit aus einer unendlichen Menge von Augenblicken besteht, und der Pfeil in jedem Augenblick ruht, ist Bewegung unmöglich. Leibniz und Newton konnten dieses absurde Resultat umgehen, indem sie eine Bewegung als ein Tangentenanstieg in einem Punkt p approximierten, wobei, um den Anstieg exakt in einem Punkt berechnen zu können, dy und dx als unendlich klein (aber nicht null!) angenommen werden mussten. Der Irische Erkenntnistheoretiker und Bischof George Berkeley erkannte schnell die Probleme dieser infinitesimal kleinen dy und dx: "Sie sind weder endliche Grössen doch auch nicht nichts. Dürfen wir sie Gespenster abgeschiedener Grössen nennen?" Höhnisch meinte der Theologe: "All das scheint eine höchst widersprüchliche Art der Beweisführung zu sein, wie man sie in der Theologie nicht erlauben würde."

Leibniz
Doch Leibniz und Newton waren überzeugt von der Notwendigkeit des "unendlich Kleinen" in der Mathematik. Der Geist Galileos durchdrang das wissenschaftliche Denken dieser Zeit: "(Das Buch der Natur) ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum", schrieb Galileo Galilei 1623. Wenn die Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben wurde, dann musste Bewegung mathematisch erfasst werden können. Um Bewegung modellieren zu können, brauchte es die unendlich kleine Bewegung. Das Leibzniz'sche Sprichwort "natura non facit saltus" wurde zum einprägsamen Ausdruck des kontinuierlichen Denkens. Demnach ist in der Natur alles "im Fluss", nichts steht still oder springt in null Zeit von einem Zustand in einen anderen. Differential- und Integralrechnung sind demnach die (Natur-)Gesetze, denen Bewegung gehorcht.

Obzwar sich die Integral- und Differentialrechnung in verschiedenen Disziplinen als unheimlich nützlich erwiesen hat und Mathematiker seither die formalen Probleme der infinitesimalen Grössen gelöst haben, ist heute bekannt, dass die Natur nicht kontinuierlich ist. Wir wissen heute, dass man Teilchen irgendwann nicht mehr weiter teilen kann. Wir wissen, dass sich Teilchen in der brownschen Bewegung chaotisch verhalten und die Bewegung deshalb nicht mit einer glatten Kurve beschrieben werden kann. Wir wissen auch, seit Entdeckung des Quantums, dass die Natur sehr wohl Sprünge macht. "Natura facit saltus creatores", scheint deshalb seit dem 20. Jahrhundert eine bessere Einschätzung der Gesetze unserer Natur. Die Physik und andere Wissenschaften kämpfen noch immer mit den Auswirkungen dieser Erkenntnis.

Die Natur ist demnach "verpixelt". Und die Ökonomie? Die gesamte Neoklassik und ihre zahlreichen Subkategorien (Österreichische Nationalökonomie, Keynesianismus, Behavioral Finance, etc. etc.) beruhen auf der Idee der unendlich kleinen, "marginalen" Veränderung. Unter Würdigung der Entwicklung der Mathematik und Physik der letzten hundert Jahre, können wir noch immer, mit Walras, davon ausgehen, dass die Ökonomie eine physikalisch-mathematische Wissenschaft ist? Können wir die ökonomische Wirklichkeit mittels Integral- und Differentialrechnung verstehen? Sind ökonomische Grössen tatsächlich "Funktionen voneinander"? Herrscht in der Ökonomie tatsächlich das Gesetz des Kontinuums - der unendlich kleinen - marginalen - Bewegung? Man kann mit 1 oder mit 2 Rappen bezahlen, niemals aber mit 1.5 Rappen. Hat das Marginalprinzip, welches das Kontinuum voraussetzt, eine Berechtigung angesichts der Tatsache, dass Zahlungen nur in diskreten Schritten getätigt werden können? Gibt es so etwas wie unendlich wenig Einkommen, unendlich wenig Output? Diese Fragen hätte sich Walras, als er mit Infinitesimalrechnung die ökonomische Wirklichkeit erklären wollte, überlegen sollen, denn wir müssen alle mit 'Nein' beantworten.

Da Geld der Ursprung unserer Wissenschaft ist, muss Geld der Ursprung unserer Beweisführung sein. Ohne Geld gibt es keinen Wertmassstab - sprich keine ökonomischen Werte - keine Preise, keine Löhne und somit keinen ökonomischen Forschungsgegenstand. In einer Wirtschaft ohne Geld gäbe es keine ökonomische Wissenschaft, da Produkte nicht mit Zahlen integriert wären - sie wären bloss ein heterogener physikalischer Haufen ohne ökonomischen Wert. Die Logik von Produktion und Tausch wäre hinreichend erklärt duch Ingenieure oder Soziologen. Erst die Integration von Output mit Geld misst ökonomische Grössen wie Output und gibt ihnen somit eine numerische Dimension unabhängig von physikalischen Dimensionen (Länge, Gewicht, Farbe, Dichte, etc.). Erst durch eine Zahlung kann Geld in die Ökonomie eintreten. Wir müssen uns somit mit einer Zahlung, dem primordialen ökonomischen Phänomen, befassen. Explizit: Ist eine Zahlung eher ein "kontinuierlicher" Fluss oder ein "Quanten"-Sprung?

Eine gute Theorie muss i) logisch konsistent sein und ii) sich auf die Realität beziehen. Die Aussage mag selbstverständlich erscheinen; sie ist es jedoch nicht. Die neoklassische Wirtschaftstheorie basiert auf dem Konzept des Gleichgewichts. Der neoklassische Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas schreibt explizit, dass Gleichgewichte in der Realität nicht vorkommen. Doch das spielt keine Rolle, denn bei Wirtschaftstheorien sei es nicht wichtig, realistisch zu sein, sondern die Aussagen der Modelle sollen bloss akzeptabel sein. Ein logisch konsistentes Wirtschaftsmodell, das sich auf die Realität bezieht, jedoch inakzeptable Aussagen macht, ist demnach nicht brauchbar für Neoklassiker. Es braucht gewiss keine wissenschaftstheoretische Ausbildung, um solche Ansichten hinterfragen zu können.

Beginnen wir also unsere Analyse, und gehen wir realistischerweise von einer Unternehmung und einem Arbeiter aus. Der Arbeiter soll Ende Monat ausbezahlt werden. Da jede Zahlung eine Bank bedingt, müssen wir davon ausgehen, dass eine Bank existiert, damit eine Zahlung überhaupt getätigt werden kann. Wir starten unsere Analyse bei tabula rasa - es existieren noch keine Depots in der Bank (eine notwendige Voraussetzung, um nicht in die Falle des logischen Scheinbeweises (petitio principii) zu fallen). Wir gehen davon aus, dass Unternehmung und Arbeiter bei derselben Bank Kunden sind. Das verändert die Analyse nur insofern, als dass wir keinen Interbankmarkt einführen müssen, welcher die Forderungen zwischen Banken ausgleicht. Diese Restriktion kann problemlos gelockert werden, ohne das Ergebnis substanziell zu ändern.

Ende Monat bezahlt die Unternehmung dem Arbeiter den geschuldeten Betrag von - sagen wir - CHF 4'000.-. Damit die Unternehmung den Arbeiter auszahlen kann, muss sie sich bei der Bank verschulden. Diese Schuld von 4'000.- wird auf der Aktivseite der Bankbilanz notiert. Gleichzeitig wird dem Arbeiter ein entsprechendes Depot von 4'000.- gutgeschrieben. Dieses muss notwendigerweise immer gleich gross sein wie das (negative) Depot der Unternehmung. Das Einkommen des Arbeiters ist nun gespeichert in Form eines Bankdepots auf der Passivseite des Bankensystems. Dieses positive Depot findet seine Entsprechung auf der Aktivseite der Bankbilanz, wo die Schuld der Unternehmung notiert wurde.
Darstellung 1: Zustände vor und nach einer Lohnzahlung
Wir erkennen in diesem exemplarischen Fall zwei unterschiedliche ökonomische Zustände, Zustand 1 und Zustand 2 (siehe Darstellung 1). Im Zustand 1 - vor der Lohnzahlung - existieren weder Schulden noch Guthaben, weder Output noch Einkommen. Im Zustand 2 - nach der Lohnzahlung - ist die Unternehmung mit 4'000.- verschuldet gegenüber der Bank und die Bank ist verschuldet gegenüber dem Arbeiter. Gleichzeitig besteht ein Einkommen im Wert von 4'000.- und Output im Wert von 4'000.-. Zeigen wir den Unterschied zwischen den zwei Zuständen - vor und nach der Lohnzahlung - noch einmal mit Hilfe eines Schemas. Vor der Lohnzahlung existieren keine Schuldverhältnisse zwischen den Akteuren (Darstellung 2):

Darstellung 2
Nach der Lohnzahlung haben sich die Schuldverhältnisse geändert. Gleichzeitig existieren nun erstmals Einkommen und Output (Darstellung 3):

Darstellung 3


Um von einem zum anderen Zustand zu gelangen, braucht es eine "Bewegung". Was ist die Natur dieser Bewegung?

Wenn wir zeigen können, dass diese Bewegung "instantan" ist - sprich null Zeit in Anspruch nimmt - dann müssen wir schliessen, dass ökonomische Veränderungen sprunghaft sind, nicht fliessend. Die unendlich kleine Bewegung im Raum - die Idee der infinitesimalen Veränderung in der Mechanik - müsste verworfen werden angesichts der Sprunghaftigkeit ökonomischer Veränderungen.
Da erst ein monetäres Phänomen - eine Zahlung - zur Entstehung ökonomischer Grössen wie Output und Einkommen führen kann, müssen wir die Zahlung genauer studieren und ihr Verhältnis zur Zeit klären.

Falls der Übergang von Zustand 1 (keine ökonomischen Grössen) zu Zustand 2 (Existenz von Output und Einkommen) instantan ist, dann wäre folgende Aussage korrekt:
  • Der Arbeiter erhält exakt in dem Zeitpunkt eine Gutschrift von seiner Bank, in dem das Unternehmen durch dieselbe Bank um denselben Betrag belastet wird.
Diese Aussage ist wahr. Jedoch müssen wir sie, um der logischen Methode Genüge zu tun, genauer prüfen. Um zu prüfen, ob diese Aussage stimmt, können wir ad absurdum argumentieren: Wir postulieren, dass dies nicht der Fall sei. Falls die obige Aussage also nicht zutrifft, müsste eine der folgenden zwei Aussagen stimmen:
  1. Belastung der Unternehmung, bevor Arbeiter Gutschrift erhält: Zwischen dem Zeitpunkt der Gutschrift für den Arbeiter und dem Zeitpunkt der Belastung der Unternehmung existiert ein positives Zeitintervall dt, während dem die Unternehmung belastet wird, bevor der Arbeiter ein Guthaben erhält.
  2. Gutschrift des Arbeiters, bevor Unternehmung belastet wird. Zwischen dem Zeitpunkt der Gutschrift für den Arbeiter und dem Zeitpunkt der Belastung der Unternehmung gibt es ein positives Zeitintervall dt, während dem der Arbeiter ein Guthaben von 4'000.- besitzt, die Unternehmung aber noch nicht belastet wurde.
Im ersten Fall würde die Bankbilanz wie folgt aussehen (Darstellung 4):
Darstellung 4

Wie in Darstellung 4 ersichtlich wird, hat sich die Unternehmung verschuldet, um dem Arbeiter ein Guthaben auszubezahlen. Die Definition einer Schuld ist "eine Leistungspflicht eines Schuldners gegenüber einem Gläubiger". Der Begriff der Schuld setzt somit zwei Parteien voraus, zwischen denen sie existiert. Anders gesagt: Das Fehlen der zweiten Partei schliesst die Existenz einer Schuld aus - man kann nicht verschuldet sein gegenüber sich selbst oder gegenüber niemandem. Doch genau dies wird in Darstellung 2 absurderweise postuliert. Die Unternehmung hat sich gegenüber dem Arbeiter verschuldet, indem er ihn via Bank (die Intermediärin zwischen Arbeiter und Unternehmung) ausbezahlt. Solange jedoch der Arbeiter sein Guthaben noch nicht erhalten hat, kann die Schuld der Unternehmung gar nicht existieren. Es kann nicht sein, dass eine Schuld nur eine Partei betrifft und die andere nicht. Da Aussage 1 gleichzeitig die Existenz und die Nicht-Existenz einer Schuld postuliert, müssen wir sie ablehnen.

Analog verhält es sich natürlich mit Aussage 2. Kein Arbeiter kann je eine Gutschrift erhalten, ohne dass eine andere Partei belastet wird. Aussage 2 sagt aus, dass jemand von niemandem eine Gutschrift erhalten kann. Doch die Forderung des Arbeiters kann nur existieren, wenn jemand ihm diese Forderung schuldet. Wie jeder Jurist weiss, sind Schuld und Forderung tatsächlich bloss die zwei Begriffe derselben Sache aus zwei Perspektiven - einmal aus Sicht des Gläubigers, einmal aus Sicht des Schuldners. Es ist objektiv unmöglich, dass eine Forderung existiert, ohne dass dieselbe Forderung für jemand anderen gleichzeitig eine Schuld bedeutet. Kurz gesagt: Schulden und Forderungen können, da sie dasselbe aus zwei Perspektiven darstellen, nur gleichzeitig entstehen und untergehen. Deshalb ist auch die zweite Aussage absurd, denn sie postuliert gleichzeitig die Existenz und die Nicht-Existenz einer Forderung.

Zahlungen haben immer zur Folge, dass sich die Schuldverhältnisse zwischen ökonomischen Agenten verändern. Es ist eine Folge der Immaterialität und Zweiseitigkeit von Schulden (resp. Forderungen), dass Änderungen augenblicklich geschehen. Aus dieser Beweisführung folgt, dass Zahlungen tatsächlich augenblickliche, sprich "instantane" Ereignisse sind. Daraus wiederum folgt, dass sich die ökonomische Wirklichkeit sprunghaft verändert. Einkommen entstehen durch Zahlungen. Preise werden nur in Zahlungen realisiert. Löhne entstehen durch Zahlungen. Output erhält erst einen Wert durch Zahlungen. Da sämtliche Übergänge zwischen ökonomischen Zuständen durch Zahlungen geschehen, und Zahlungen instantane Ereignisse sind, kann die ökonomische Wirklichkeit nicht mit Infinitesimalrechnung verstanden werden.

Für Cournots, Jevons' und vor allem Walras' Versuch, aus der Ökonomie eine exakte Wissenschaft zu machen, verdienen sie unsere volle Sympathie. Es geht in diesem Artikel denn auch nicht darum, die Mathematik aufgrund persönlicher Präferenzen oder mit Hilfe "blumiger Sentenzen" aus der Ökonomie zu verbannen, im Gegenteil. Vielmehr ist es der Versuch einer Beweisführung, weshalb monetäre Makroökonomie nicht durch mathematische Funktionen verstanden werden kann. Im Kern liegt der Grund darin, dass infinitesimale Grössen in der Ökonomie nicht existieren. Da sich ökonomische Grössen sprunghaft verändern, ist die Idee des Kontinuums nicht kompatibel mit der ökonomischen Wirklichkeit.

Trotzdem ist die monetäre Makroökonomie potentiell eine exakte Wissenschaft. Exakte Wissenschaften können quantitativ exakte Aussagen über die Wirklichkeit machen. Die monetäre Makroökonomie kann dies zweifelsohne. Eine Transaktion weist eine strenge Logik auf, welche unabhängig von menschlichem Verhalten oder Unsicherheit gilt. Im Moment der Zahlung wird Output exakt gemessen durch die Emission von Geld (Randbemerkung: Da Angebot und Nachfrage immer nur im Moment einer Zahlung realisiert werden, und der Preis der Ware [Angebot] im Tausch immer identisch gesetzt wird mit der Menge Einkommen [Nachfrage ], die dafür hergegeben werden muss, sind die Begriffe "Überangebot" und "Übernachfrage" streng genommen keine ökonomische, sondern eher soziologische Begriffe). Es existiert in der Ökonomie eine exakte Korrelation zwischen realen Grössen - ökonomischem Output - und Zahlen. Produktion und Tausch wird dank der buchhalterischen Logik von Geld mit Zahlen integriert und eine Wissenschaft von Produktion und Tausch ist deshalb exakt. Da jedoch Produktion und Tausch immer auch den Menschen bedingen und beeinflussen, hat die Ökonomie auch eine geisteswissenschaftliche Seite. Dieser janusgesichtige Aspekt unserer Wissenschaft macht sie leider zum Objekt ideologischer Grabenkämpfe, was den wissenschaftlichen Paradigmenwechsel umso schwieriger gestaltet.

Die Ökonomie und die Mathematik sind keineswegs getrennt, im Gegenteil: Sie sind historisch enger verstrickt als gemeinhin gedacht, jedoch nicht im Sinne der herrschenden Lehrmeinung. So wissen wir heute mit einiger Sicherheit, dass die Mathematik und das Geld zusammen geboren wurden. Mathematik begann mit der Erfindung von Zahlen, und die ersten Zahlen entsprangen wahrscheinlich dem Geldwesen. Historiker gehen heute davon aus, dass die ersten Zahlensymbole vor etwa 10'000 Jahren im Nahen Osten erschienen sind. Buchhalter brachten Tonkugeln und andere Gegenstände in den Umlauf, welche dem Halter Eigentumsrechte zusicherten. Die Kugeln repräsentierten Waren wie Weizen oder Vieh. Wenn man die Tonkugeln auslegte, wusste man, wieviele Waren der Besitzer zugute hatte. Bald einmal wurden die Tonkugeln gefälscht, und man steckte sie deshalb in versiegelte Tonbehälter. Auf die Behälter ritzte man ein Symbol, welches festhielt, wieviele Tonkugeln sich im Behälter befanden. Dies war, wenn man der Archäologin Denise Schmandt-Besserat Glauben schenken darf, die Geburt von Zahlen. Irgendwann merkten die mesopotamischen Bürokraten, dass eine blosse Zahl, auf einem wertlosen Trägergegenstand festgehalten, problemlos die Tonkugeln ersetzen konnte. Es gibt noch ältere Zeugnisse von der Verwendung von Zahlen, die aber nicht viel mehr als rudimentäre Kratzer sind. Man fand beispielsweise Knochen mit Kerben darauf, ca. 37'000 Jahre alt, welche in der Border Cave gefunden wurde, jedoch ist nicht klar, was sie repräsentierten.

Es dauerte mehr als 2'000 Jahre, bis Mathematiker die Annahmen der Geometrie Euklids hinterfragten. Punkt, Linie und Parallele verloren plötzlich den Nimbus der Absolutheit, wurden verhandelbar. Die grundlegendsten Annahmen sind immer am schwersten zu erkennen und am schwersten zu reformieren. Im 19. Jahrhundert kämpfte Léon Walras gegen den Widerstand der etablierten Ökonomik, mit der festen Absicht, die Infinitesimalrechnung in die Ökonomie einzuführen und letztere so zu einer exakten Wissenschaft zu machen. Heute werden seine Ansichten jeder Mittelschülerin und jedem Ökonomiestudenten beigebracht, wenn diese lernen, dass Angebot und Nachfrage Funktionen des Preises sind. Wirtschaftsjournalisten verwenden Bilder wie "Geldpumpen", "ankurbeln", "Überhitzung" und "Abkühlung" der Wirtschaft, "Börsenblasen" und andere irreführende Metaphern aus Mechanik oder Fluiddynamik. Keynes und Friedman theoretisierten beide im Schatten von Walras, indem sie ökonomische Grössen als mathematische Funktionen voneinander darstellten (z.B. Konsum als Funktion des Einkommens bei Keynes, oder die Inflation als Funktion der Geldmenge bei Friedman). Obschon sich Ökonomen im 19. Jahrhundert vehement gegen den "infinitesimalen Paradigmenwechsel" in der Wirtschaftstheorie wehrten, hat er rückblickend vollständig gesiegt. Es fehlte die Alternative, und so ist heute Walras' Erbe lebendig und omnipräsent.

Die Mathematik und Physik haben sich seither weiterentwickelt, die Ökonomie ist stecken geblieben im mechanischen Weltbild des 19. Jahrhunderts. Die Erkenntnis, dass die Natur nicht kontinuierlich ist, wird früher oder später auch das ökonomische Denken einholen. Doch der Widerstand gegen neue Theorien und Methoden hat sich seit dem 19. Jahrhundert, gelinde gesagt, nicht verändert. Anstatt die herrschende Lehre fundamental in Frage zu stellen, wiederholen Ökonomen alte Theorien oder modifizieren sie höchstens leicht, um in den exklusiven Club der ökonomisch Sachverständigen aufgenommen zu werden. Dabei gäbe es viel Fundamentales zu kritisieren. Die neoklassische Theorie quillt über von Widersprüchen. Diese sollten nicht verschwiegen oder durch Annahmen überbrückt, sondern angesprochen und Studenten beigebracht werden, in der Hoffnung, dass eines Tages diese Paradoxa, welche einen Wissenschaftler mehr als alles andere beflügeln, aufgelöst werden. Wie sagte Niels Bohr? "How wonderful that we have met with a paradox. Now we have some hope of making progress."


  • Walras, L. (1954), Elements of Pure Economics or The Theory of Social Wealth, first edition in french 1874, London and New York: Routledge.