Mittwoch, 23. Juni 2010

Alice im Wunderland

Rolf Dobelli, Gründer von Zürich.Minds, schreibt in der NZZ vom 23.06.2010 einen erkenntnistheoretisch spannenden Kommentar. Ich will hier argumentieren, dass Dobelli – trotz wertvoller Aspekte – mit seinen Ausführungen in Sackgassen rennt, vor allem weil er die Geldtheorie mit Politischer Philosophie scheinbar gleichsetzt. Indem hier ein weiter - aber nicht willkürlicher - Bogen geschlagen wird über Keynes, Hayek und Popper, soll gezeigt werden, dass eine mit Finanzkrisen übersähte Geschichte nicht bedeuten muss, dass wir das Problem monetärer Krisen nie in den Griff kriegen werden.

Indem Dobelli ausschliesst, dass wir die Komplexität der Finanzmärkte je erfassen können, macht er paradoxerweise ebengerade eine Prognose über die Zukunft, wo er doch Prognosen als ungültige Konstrukte in einer non-probabilistischen Welt zu erklären versucht. Bekanntermassen können wir ja auch nicht induzieren, dass keine schwarzen Schwäne existieren, nur weil wir noch keinen gesehen haben. Aber anstatt dem scheinbaren Chaos des derzeitigen Finanzsystems resignierend Deus Vult! entgegenzurufen, sollte es unsere Aufgabe sein, endlich die Logik des Geld- und Kreditwesens wissenschaftlich zu verstehen. Davon sind wir noch weit entfernt. Dies einmal erreicht, können wir uns daran machen, das Finanzsystem stabil zu gestalten. Dazu braucht es ein logisches und konzeptuelles Verständnis der Natur und der Funktionen von Finanzmärkten, welches nicht Aufgabe der Politischen Philosophie, sondern der Geldtheorie ist. Während es die Aufgabe der Politischen Philosophie ist, politische Entscheide und Handlungen zu analysieren und kritisieren, ist es die Aufgabe der Geldtheorie, die Natur des Geldes zu erforschen und Ratschläge für die Politik zu machen, die ein ordentliches Finanzsystem ermöglichen. Die Gleichsetzung dieser zwei Wissenschaften ist vielleicht vergleichbar mit der Gleichsetzung von Architektur mit der Bauphysik.

Dobelli argumentiert, dass die Komplexität globaler (Finanz-)märkte uns alle in eine unangenehme Situation manövriert hat, in der wir unsere eigene Welt nicht mehr verstehen. Als Beweis führt er korrekterweise auf, dass trotz den ungefähr 1’000’000 Ökonomen auf der Erde niemand den Zeitpunkt und die genaue Entwicklung der Finanzkrise prognostizierte. Er schliesst daraus, dass wir unsere Entscheide und Handlungen neu bewerten müssen: erstens sollen wir für unsere Entscheidungen möglichst viele widersprüchliche Meinungen einholen und abwägen. Zweitens sollen wir Entscheidungsträger nicht an ihren Resultaten, sondern an ihren Entscheidungsprozessen messen. Drittens sollten wir anerkennen, dass es keine eindeutigen Prognosen mehr gibt. Viertens sei die Interdisziplinarität zu fördern. Fünftens soll Komplexität wissenschafltich erforscht werden.

Die Erkenntnis, dass unsere Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen, deren Komplexitätsgrad unser kognitives Potenzial übersteigen, ist gewiss nicht neu. In der Wirtschaftswissenschaft waren es F. A. Hayek und J. M. Keynes, die über dieses Thema wohl am tiefsten und intensivsten nachdachten und weitgehend zu denselben Einsichten gelangten. Wen die Nennung dieser zwei Namen in einem harmonischen Kontext ein wenig befremdet, soll sich einmal mit K. Poppers Werk “Logik der Forschung” befassen. Popper – ein Mitglied der Mont Pélerin-Society und Freund von Hayek – bezieht sich in seiner Arbeit oft auf die epistemologischen Werke von Keynes aus den 1920er Jahren, als Keynes sich einen Namen als Logiker und Mathematiker machte. Tatsächlich sind die Ansichten von Keynes und Hayek im Bereich der Erkenntnistheorie weitgehend übereinstimmend. Auch drückte Keynes gegenüber Hayek seine tiefe Sympathie für dessen Politische Philosophie und Abhandlungen über die Freiheit aus – auch dies wissen bloss wenige, da sich die ideologisch geladene Keynes-Hayek-Debatte mehrheitlich auf deren Differenzen beschränkt. So schreibt Keynes über Hayeks "The Road to Serfdom":


"In my opinion it is a grand book...Morally and philosophically I find myself in agreement with virtually the whole of it: and not only in agreement with it, but in deeply moved agreement."

Hayek argumentiert insbesonders, dass zentrales Planen wegen der extremen Komplexität unserer Welt zu unbeabsichtigten und schlechten Konsequenzen führt (à la Ölflecktheorem von L. v. Mises), und dass zentrale Planung deshalb zum Scheitern verurteilt ist. Keynes hat dieser polit-philosophischen Erkenntnis kaum etwas entgegen zu setzen. Doch Keynes wurde von Alfred Marshall nicht als Politischer Philosoph eingestellt, sondern als Dozent für Geldtheorie an der Universität Cambridge.* Keynes erkannte in seinen Forschungen, dass in einer Geldwirtschaft die Kreditvergabe intim mit der Produktion gekoppelt ist, dass die Kreditvergabe zur Schöpfung neuer Einkommen führt, und dass Geld nicht physikalisch, sondern buchhalterisch verstanden werden musste. Kurzum: Keynes erkannte, dass das Phänomen des Geldes nicht mit dem Verhalten der Individuen erklärt werden kann, sondern eigenen – streng logischen – Gesetzen folgt.** So sind auch seine logischen Identitäten S=I und Y=C+I zu verstehen: dies sind buchhalterische Gesetze, welche ungeachtet individueller Verhalten stimmen. Keynes war deshalb nur in zweiter (oder dritter) Linie ein Politischer Philosoph. In erster Linie war er ein Geldtheoretiker.

Sein berufliches Lebensziel war es bekanntlich, eine "Monetäre Theorie der Produktion" zu begründen. Keynes’ weitgehende Übereinstimmung mit Hayeks Politischer Philosophie ist deshalb keineswegs widersprüchlich. Keynes und Hayek können durchaus als komplementäre Forscher verstanden werden.

In einem interessanten Vergleich schreibt Dobelli weiter, dass wir kein "Gefühl" für das Finanzssystem haben, sowie wir kein Gefühl für Quantenmechanik oder die Relativitätstheorie haben. Mit dieser Metapher scheint Dobelli dem Geist seines eigenen Artikels jedoch zu widersprechen. Denn obwohl sich das Verhalten subatomarer Teile und der dehnbaren Zeit unserer Vorstellungskraft entzieht, haben es ja Wissenschaftler durch die Anwendung logischer Beweisführung gerade geschafft, diese kontraintuitiven Phänomene zu erschliessen!*** Wie Louis de Broglie unser Verständnis einer kontinuierlichen Welt erschütterte, indem er auf die notwendige Existenz von Materiewellen hindeutete, brauchen wir noch immer einen wissenschaftlichen Fortschritt, um die Logik des Geldes zu erklären.

Nun könnte man argumentieren, dass das Finanzsystem von Natur aus ein chaotisches System sei (wie das Klima vielleicht), und dass man es deshalb nicht verstehen kann. Tatsächlich scheint Dobelli in diese Richtung zu gehen, wenn er sagt, dass "nirgendwo (...) die monetären Anreize, die Welt zu verstehen, so gross sind wie auf den Finanzmärkten". Diese Betrachtugsweise darf aus zwei Gründen bezweifelt werden. Erstens verlangen es die Anreize im Finanzsektor in erster Linie, einen grossen Profit zu erwirtschaften. Die Ansicht, der Finanzsektor sei eine Art Bildungsinstitut voller Gelehrter, wo alle Anreize in Richtung Wissensvermehrung zeigen, ist doch gewagt - obwohl man davon ausgehen kann, dass viele Bankiers sehr gebildete Menschen sind. Zweitens ist das Finanzsystem - im Unterschied zum Klima - von Menschenhand geschaffen. Während das Klima deshalb physikalischen Gesetzen unterworfen ist, unterliegt das Finanzsystem einem anderen ordnenden Moment: buchalterischen und ökonomischen Prinzipien.** Diese haben ihre eigene Logik und können mit physikalistischen Ansätzen nicht verstanden werden.

Wie Ökonomen denn ungerne zugeben, arbeitet die moderne Makroökonomie mit Realtauschmodellen, in denen Geld als eine Art "Schleier" oder "öffentliches Gut" erst ex-post eingeführt wird. Seit John Hicks' berühmten Ausspruch "Money is what money does" wird Geld zudem bequemerweise nur noch anhand seiner Funktionen definiert. Die Natur des Geldes wird nicht definiert, resp. man beschränkt sich auf Quasi-Definitionen wie "Geld ist, was als Geld akzeptiert wird". Was jedem anderen Wissenschaftler als zirkuläre Definition ins Auge springen muss, scheint Ökonomen nicht zu stören. Es muss jedem einleuchten, dass, solange wir keine logisch konsistente Definition von Geld haben, wir auch nicht wissen können, was eigentlich die genauen Funktionen von Banken sind. Hier muss angesetzt werden. Die konzeptuelle Logik, wie von Popper ausführlich beschrieben, muss zur einzig zulässigen Methode der Wirtschaftstheorie werden. Axiomatische Modelle müssen abgerissen werden, wo diese Unwissen bloss überbrücken. Die Politische Philosophie kann und soll sich mit Prognosemöglichkeiten in komplexen Systemen beschäftigen. Die Geldtheorie muss sich mit der Logik des Geldwesens und des Zahlungsystems auseinandersetzen und Vorschläge machen, wie die oszillierenden Finanzmärkte stabil gemacht werden können. Das ist keine unmögliche Aufgabe. Wir haben ein wichtiges Präjudiz: in der Nachkriegszeit waren die Finanzmärkte sehr viel stabiler als heute. Der Wirtschaft ging es wesentlich besser. Wussten wir früher gar mehr als heute?

* Marshall – der Begründer des allbekannten Angebots- und Nachfragediagramms – erkannte in Keynes einen brillianten Logiker und erhoffte sich, dass Keynes die Mängel seines Angebots- und Nachfrageschemas beheben könnte. Die Mängel waren – wie Marshall selbst erkannte – die fehlenden Dimensionen Geld und Zeit.

** Das "essenzielle Prinzip des Bankenwesens", welches Keynes als das grundlegendste Prinzip der Geldtheorie erkannte, war die notwendige Gleichheit der Gutschriften und Belastungen innerhalb jeder Transaktion ("the necessary equality of debits and credits").

*** Tatsächlich gibt es in der Ökonomie wie auch in der Physik Phänomene, welche sich nicht durch "visuelle Observation" erklären lassen, sondern für deren Verständnis logische Beweisführung herangezogen werden muss.