Mittwoch, 9. September 2009

Denken in der Zeit

Seit Zenon von Elea fragten sich die Griechen immer wieder: ist die Welt kontinuierlich oder diskontinuierlich? Die Griechen dachten, dass die Physik die Wissenschaft des Diskontinuums sei; das Atom, welches sich gewissermassen nicht zerschneiden lässt, war das Symbol davon. Aber seit Galileo scheint die Bewegung das Kontinuum zu bedeuten: Geschwindigkeit und Beschleunigung waren Ausdrücke des Kontinuums. Das berühmte Axiom von Leibnitz natura non facit saltus stellt sich andauernd vor den Geist. Ist es wahr, dass die Natur keine Sprünge macht? Besteht die Welt aus lauter Flüssen in einer kontinuierlichen Zeit?

Gemeinhin stellen wir uns vor, dass sich unsere Gedanken über eine kontinuierliche Zeit erstrecken: "I'm thinking", ich bin "am denken" also. Ein Gedanke hat aus dieser Betrachtung einen Anfang, einen kontinuierlichen Fortschritt, und ein Ende. Am Ende des kontinuierlichen Gedankengangs ist ein Gedanke formuliert - produziert sozusagen.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, wenn wir sagen, denken sei ein neuronaler "Fluss" innerhalb der kontinuierlichen Zeit, der einen Gedanken als Resultat hat? Müsste es dann nicht wahr sein, dass "ein Gedanke" der Summe unendlich vieler infinitesimal kleiner Denkschritte entspricht?

Diese Betrachtung birgt einen unüberwindbaren Widerspruch. Wenn es wahr ist, dass "denken" ein Prozess in der teilbaren Zeit darstellt, müsste eine der folgenden Aussagen stimmen:

1) man kann den Denkprozess in unendlich viele unendlich kleine Teilgedanken aufteilen. Alle Teilgedanken sind leer, tragen also keinen Gedanken in sich. Die unendliche Summe unendlich vieler leerer Teilgedanken wäre null, sprich nichts. Kein Gedanke wäre möglich.

2) man kann den Denkprozess in unendlich viele unendlich kleine Teilgedanken aufteilen. Alle Teilgedanken sind ein positiver Anteil des Endgedankens. Die unendliche Summe unendlich vieler solcher positiver Teilgedanken ist unendlich gross. Der Gedanke umfasst also unendlich viel denken.

Eine dieser Optionen muss gewählt werden, wenn wir denken als Prozess in der kontinuierlichen Zeit betrachten. Offensichtlich führt uns diese Betrachtung jedoch in absurde Situationen, die mit der Realität nichts zu tun haben.

In der klassischen Mechanik kann gesagt werden, dass "Geschwindigkeit mal Zeit = Distanz" (v * t = d): die Geschwindigkeit innerhalb einer unendlich kleinen Zeiteinheit bleibt gleich der Geschwindigkeit während der gesamten Periode. Wenn jedoch analog den Gesetzen der klassischen Mechanik "denken" als eine Geschwindigkeit - eine Bewegung in der Zeit also - und "ein Gedanke" als die zurückgelegte Distanz betrachtet wird, begeben wir uns in ein Paradoxon: während die Geschwindigkeit für jede Zeitperiode innerhalb des Kontinuums konstant bleibt, strebt "denken" in einem unendlich kleinen Zeitabschnitt notwendigerweise gegen null. Die Summe dieser Nullen muss gleich null sein; das bedeutet, dass ein Gedanke in der kontinuierlichen Zeit nicht existieren kann: es braucht eine unteilbare "Masse" Zeit, um einen Gedanken zu fassen: ein "Quantum" Zeit also.

Es erscheint korrekt, zu sagen, denken sei eine Bewegung in der Zeit. Jedoch können wir nicht sagen, dass der Gedanke der Raum ist, der vom denken durchschritten wird - denn der Gedanke könnte vor dem denken nicht existieren. Viel eher definiert der Gedanke unsere Zeit. Kierkegaard sagte hierzu: "Das Menschsein ist eine Bewegung in der Zeit". Man könnte vielleicht eher sagen: Der Gedanke ist definiert in der Quantum-Zeit; durch deren Definition erfahren wir unser Menschsein.

Anders ausgedrückt: Wenn es wahr ist, dass Denken = Gedanken/Zeiteinheit ist, dann ist es absurd, den Gedanken als Raum zu verstehen, der vom Denken durchquert wird; denn der Gedanke kann vor der Beendigung des Denkens nicht existieren.

Es erscheint mir, dass dies stimmen muss. Machen wir ein Beispiel eines Gedankens: "Ich lebe im Jetzt". Dieser Gedanke musste fertig gedacht werden, damit er existieren kann. Ein Quantum Zeit muss vergehen, bis der Gedanke ausformuliert werden kann. Der Gedanke selbst erscheint uns als der Endpunkt eines kontinierlichen Denkprozesses, in dem wir nachdachten. Tatsächlich ist der Gedanke die Menschwerdung der Zeit. Der Satz "Ich lebe im Jetzt" birgt somit einen Widerspruch. Während sich das Wort "Jetzt" auf einen Punkt in der kontinuierlichen Zeit bezieht, ist der Gedanke selbst ein unteilbares Quantum menschlicher Zeit; und in der quantischen Zeit existiert kein "Jetzt", sondern bloss menschgewordene Zeitkörner, durch deren Schaffung wir unsere Existenz erfahren.

Denken passiert folglich in Sprüngen; es gibt keine Gedanken"flüsse" in einer kontinuierlichen Zeit, sondern Gedankengeburten, welche selbst ein Quantum Zeit definieren.